Berlin-Lichtenberg - "Gefängnis Nr. 6"
Der Justizkomplex zwischen Alfred- und Magdalenenstraße übernahm in sechs verschiedenen Herrschaftssystemen diverse Funktionen. Während der SBZ und der ersten Hälfte der 1950er-Jahre der DDR nahm er mit überregionalen Sonderaufgaben und als Standort des zentralen sowjetischen Militärtribunals (SMT) eine Sonderstellung ein. Seit 1950 erfolgten von hier aus die Deportationen aller SMT-Verurteilten, die ihre Strafe in „Besserungsarbeitslagern“ in der Sowjetunion verbüßen sollten, darunter auch aus Dresden.
Vorgeschichte
Im Juni 1906 nahm das preußisch-königliche Amtsgericht Lichtenberg den Justizbetrieb auf und mit ihm das dazugehörige viergeschossige Gefängnis, das hinter dem Gerichtsgebäude am Roedeliusplatz errichtet worden war. Seit den 1920er-Jahren fungierte die Haftanstalt vermutlich ausschließlich als Männer-Gefängnis. Ab Januar 1941 erfolgte eine funktionale Neuausrichtung als „Frauenjugendgefängnis Lichtenberg“. Zu den Insassinnen gehörten mehrheitlich Deutsche sowie minderjährige Polinnen und Zwangsarbeiterinnen aus der Sowjetunion. Im März 1944 trafen zwei Sprengbomben den östlichen Gefängnisflügel und richteten erhebliche Zerstörungen an.
Der Justizkomplex unter sowjetischer Verwaltung
Am 22. April 1945 besetzten Verbände der Roten Armee den Berliner Stadtbezirk Lichtenberg. Die leerstehende Hafteinrichtung wurde von der militärischen Abwehr Smersch sowie von der Geheimpolizei NKWD besetzt. Letztere richtete dort zunächst ein Etappengefängnis („Peresylnaja Tjurma“) ein. Ab August 1945 unterstand das „Gefängnis Nr. 6“ der Abteilung Speziallager des NKWD in Deutschland. Die Haftanstalt wurde von der für Berlin zuständigen Abteilung („operativer Sektor“) des NKWD/MWD als Untersuchungsgefängnis sowie als Durchgangsgefängnis für Verurteilte genutzt. Im Justizkomplex befand sich außerdem die zentrale Tagungsstätte des Militärtribunals der Garnison der Stadt Berlin. Am 27. März 1947 erfolgte die Übernahme des Anstaltskomplexes inklusive Personal und Inventar durch die für Berlin zuständige Abteilung des MGB. Im Juli 1950 wurde der Berliner Operativsektor als eigenständige MGB-Leitungs- und Verwaltungsebene aufgelöst.
Bei den Häftlingen handelte es sich sowohl um Untersuchungs- als auch Strafgefangene. Sie waren in Zellen untergebracht, in denen Tag wie Nacht elektrisches Licht brannte und die mit je einer Pritsche, einem Hängeschrank, Tisch und Hocker sowie einem Eimer für die Notdurft ausgestattet waren. In den 1950er-Jahren liberalisierte sich die Haftsituation für jene zu Lagerstrafen Verurteilten etwas. Die Häftlinge durften Bücher aus der Gefängnisbibliothek ausleihen oder gemeinsam Schach spielen. Möglichkeiten, mit Angehörigen Kontakt aufzunehmen, bestanden nicht. Für den Freigang standen zehn schmale Höfe zur Verfügung. Auf den körperlichen Zustand der weiblichen Häftlinge, zum Beispiel Schwangerschaften, wurde kaum Rücksicht genommen.
Sowjetisches Militärtribunal
Das Tribunal der sowjetischen Garnison der Stadt Berlin hatte seit Mai 1945 seine zentrale Tagungsstätte im ehemaligen Betsaal im Westflügel des Anstaltgebäudes. Die meisten in Lichtenberg inhaftierten Untersuchungsgefangenen wurden von diesem Tribunal verurteilt. Es tagte in der Regel unter Ausschuss der Öffentlichkeit. Nur in seltenen Fällen wurden öffentliche Schauprozesse organisiert, welche jedoch in Gebäuden mit großen Versammlungsräumen und nicht in der Haftanstalt Lichtenberg stattfanden. Außerdem fällte die sogenannte Sonderberatung des MGB (OSO) in Moskau Fernurteile, die den Betroffenen in Berlin mündlich mitgeteilt wurden.
Die Häftlinge waren zunächst vor allem aufgrund von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Widerstandshandlungen gegen die sowjetische Besatzungsmacht, Waffenbesitz und Werwolf-Aktivitäten angeklagt. Später wuchs die Anzahl der Verurteilten wegen Agententätigkeit für feindliche Geheimdienste oder aus politischen Gründen. Auch unter vielen verurteilten sowjetischen Staatsbürgern dominierte der Spionagevorwurf. Bis Januar 1947 verhängte das SMT der Garnison Berlin in mindestens 98 Fällen – 97 Männer, 1 Frau – zumeist auf Grundlage des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 19. April 1943 („Ukas 43“) die Todesstrafe. Der Ort der Exekutionen ist bisher nicht bekannt.
Die Angeklagten, die in Berlin-Lichtenberg oder anderen Berliner Tribunaltagungsorten zu Haftstrafen verurteilt worden waren, verbrachten im „Gefängnis Nr. 6“ eine unbestimmte Zeit in großen Sammelzellen. Im Jahr 1946 wurden sie über das NKWD-Gefängnis Nr. 7 in Frankfurt/Oder überwiegend in sowjetische Zwangsarbeitslager transportiert. Die Verurteilten, die nicht in die UdSSR verbracht wurden, kamen in die Speziallager Bautzen und Sachsenhausen sowie in das Gefängnis Nr. 5 in Neustrelitz. Seit 1950 erfolgten von Berlin-Lichtenberg aus die Deportationen aller in der DDR von SMT Verurteilten, die ihre Strafe in „Besserungsarbeitslagern“ in der Sowjetunion verbüßen sollten.
Im September 1950 stellte das SMT der sowjetischen Garnison der Stadt Berlin seine Tätigkeit ein. Im Folgenden organisierte sich die sowjetische Militärgerichtsbarkeit in der SBZ wie schon bis Ende 1946 über einzelne Truppenteile. Die Tagungsstätte im Lichtenberger Gefängnis übernahm im Mai 1950 das SMT der Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland mit der Feldpostnummer 48240. Es tagte auch auswärtig in der gesamten DDR.
Im selben Jahr wurde die Todesstrafe wieder eingeführt. Bekannt sind mindestens 105 Fälle von nach 1950 im „Gefängnis Nr. 6“ gefällten Todesurteilen, von denen 87 vollstreckt wurden. Die letzten beiden vom SMT 48240 gefällten Todesurteile wurden im Dezember 1952 und im Januar 1953 vollzogen. Die Verurteilten wurden im Moskauer Butyrka-Gefängnis erschossen.
Am 20. September 1953 übernahm das MfS den größten Teil der Haftanstalt. Die vierte Etage sowie der Gerichtssaal wurden bis 1955 weiterhin von sowjetischen Stellen genutzt.
MfS-Untersuchungshaft
Nach der Übernahme richtete das MfS am Standort ihre Untersuchungshaftanstalt (UHA) II ein. Seitdem bildete das in unmittelbarer Nähe zum Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in der Normannenstraße gelegene Gefängnis zusammen mit der Untersuchungshaftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen die zentrale Untersuchungshafteinrichtung der Staatssicherheit. Für viele Häftlinge war die sogenannte Magdalena eine Durchgangsstation kurz nach der Festnahme oder vor der Haftentlassung. Inhaftierte aus Hohenschönhausen wurden zu Besuchs- und Anwaltsterminen hierher gebracht. Aber auch Personen, die als Zeugen in laufenden Ermittlungsverfahren befragt werden sollten, wurden in ein eigens dazu errichtetes Barackengebäude im Hof der Haftanstalt einbestellt und dort vernommen.
Heute
Der historische Ort ist nicht zugänglich, da das Gebäude momentan als Justizvollzugsanstalt für Frauen genutzt wird. Am 18. Februar 1998 wurde eine aus zwei Teilen bestehende Gedenktafel neben dem Eingang des heutigen Frauengefängnisses enthüllt, die auf die Nutzung des Gebäudes während der kommunistischen Gewaltherrschaft und auf die Opfer hinweisen.
Literatur
Peter Erler, „Tjurma Nr. 6“. Das Amtsgerichtsgefängnis Berlin-Lichtenberg unter sowjetischer Verwaltung (1945 bis 1953), in: ZdF 44/2019, S. 92–121.