Karlag (Karaganda)
Das Karagandinsker „Besserungsarbeitslager“ (Karlag) bestand von September 1931 bis Juli 1959. Die zentrale Verwaltung befand sich in Dolinka, einem Dorf südwestlich von Karaganda in der Kasachischen Sowjetrepublik. Die maximale Insassenzahl betrug 66 000 Personen, die in der Landwirtschaft, in Industriebetrieben, bei der Gewinnung von Bodenschätzen, bei der Fischerei sowie im Wohn- und Industriebau eingesetzt wurden.
Zur Entstehung
Am 7. Dezember 1929 beauftragte der Rat der Volkskommissare, die Regierung der UdSSR, die Geheimpolizei (OGPU) und das Volkskommissariat für Finanzen mit der Gründung neuer Haftlager im asiatischen Teil der UdSSR, so in der autonomen Sowjetrepublik Kasachstan, in Sibirien und im Fernen Osten. Vorausgegangen waren ein Beschluss des Politbüros der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) und eine Weisung Stalins vom 13. Mai 1929, nach der die Arbeitskraft der zu mehr als drei Jahren Haft verurteilten Sowjetbürger auszunutzen sei.
Nach dem Eintreffen der ersten Häftlingstransporte stellte sich heraus, dass das vorgesehene Territorium aufgrund seiner mangelnden Fruchtbarkeit nicht als Gebiet für ein expandierendes Lager mit vorwiegend landwirtschaftlicher Produktion geeignet war. Daraufhin wurde das Lagergebiet in den Süden von Karaganda verlegt. In dieser Region lebten bereits sogenannte Sonderumsiedler verschiedener Nationalitäten, die man im Zuge der Kollektivierung aus ihren Heimatregionen in die kasachische Steppe deportiert hatte. Dem Karlag wurde ein riesiges Territorium übertragen, auf dem sich sowohl die umzäunten Haftorte als auch die von den Häftlingen zu entwickelnden landwirtschaftlichen und handwerklichen Produktionsstätten befinden sollten. Im Juli 1931 zählte das Karlag bereits über 13 500 Häftlinge. Seit September 1931 existierte das Karlag als selbständiges „Besserungsarbeitslager“, das der Moskauer Hauptverwaltung Lager der OGPU unterstand. Damit fand die Gründungsphase des Karagandinsker „Besserungsarbeitslagers“ ihren Abschluss.
Struktur und Aufgaben des Lagers
Die Gliederung der inneren Verwaltung des Karlag glich wie bei allen anderen Lagerkomplexen der Struktur der Moskauer Hauptverwaltung Lager. Es gab hier wie dort eine Polit-, eine Kader- und eine operativ-tschekistische Abteilung, die Abteilung für die Bewachung und Durchsetzung des Haftregimes, eine für Statistik und Verteilung zuständige, eine für kulturerzieherische Arbeit, eine Finanzabteilung sowie weitere, dem Produktionsprofil des Lagers entsprechende Abteilungen.
Das Karlag war Bestandteil der stalinschen Agrarpolitik, deren Ziel darin bestand, die Landwirtschaft auf der Grundlage der vollständigen Kollektivierung und Mechanisierung radikal umzugestalten und bislang ungenutzte Territorien landwirtschaftlich zu nutzen. Hauptaufgabe des Lagers war die Erschließung weitreichender Steppengebiete für die Viehwirtschaft und die Urbarmachung großer Flächen für die Feldwirtschaft und den Gemüseanbau. Durch die Erschließung weiterer Steppengebiete vergrößerte sich die vom Lager genutzte Fläche zwischen 1930 und 1933 auf das Zehnfache.
Entwicklung
Bereits zwei Tage nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion ließ die Karlag-Führung die ersten Häftlinge wegen „faschistischer Propaganda“ erschießen. Unter den 247 nach Kriegsbeginn zum zweiten Mal vor Gericht gestellten und zum Tode verurteilten Häftlingen waren 159 Frauen. Im Sommer 1942 verpflichtete sich das „Kollektiv des Karlag“ – in Erfüllung einer Weisung Stalins – landwirtschaftliche Produkte über den Plan zu liefern, um die Rote Armee allseitig zu unterstützen. Zuständig für die Erfüllung der Verpflichtung waren allein die Häftlinge. Am 20. April 1943 wurde das Dscheskasganer Besserungsarbeitslager des NKWD in das Karlag eingegliedert. Der im Süden Kasachstans gelegene Haftort hatte zwischen 1940 und 1943 als selbständiges Lager existiert. Hier förderten die Häftlinge unter den widrigsten Arbeitsbedingungen Kupfer- und Manganerz. Ihre Überlebenschancen waren gering. Nach der Integration des Lagers Dscheskasgan stieg die Zahl der im Karagandinsker Besserungsarbeitslager inhaftierten Gefangenen auf annähernd 54 000.
Hoffnungen der Gefangenen auf eine umfassende Amnestie nach dem Sieg über Hitler-Deutschland, zumindest auf eine Lockerung der Haftordnung, erfüllten sich nicht. Das Karlag expandierte weiter, die Häftlingsströme in die kasachische Steppe schwollen sogar noch an. Mit ihnen trafen neben Tausenden politischen Gefangenen ebenso Schwer- und Berufsverbrecher, aber auch Kleinkriminelle ein, die überwiegend aus purer Not zu Straftätern wurden und nach dem im Juni 1947 erlassenen Gesetz „Über den verschärften Schutz des persönlichen Eigentums der Bürger“ mit Lagerhaft bestraft worden waren.
1948 war das Jahr mit der höchsten Häftlingsbelegung in der Geschichte des Karagandinsker Besserungsarbeitslagers: Auf 30 Haft- bzw. Produktionsabteilungen verteilt schufteten 65 000 Gefangene. Nach dem Krieg war das Karlag mehr als nur ein landwirtschaftlich geprägtes Haftlager. Auf Befehl der Moskauer Lagerhauptverwaltung des MWD wurden in die Karlag-Struktur Häftlinge, Personal und Produktionsstätten von acht kleineren Besserungsarbeits- bzw. Sonderlagern, die zeitweilig in Kasachstan bestanden, integriert. 1944 gliederte man das auf Kohleförderung spezialisierte Lager Karaganda-Ugol ein. Im Oktober 1945 folgte das auf Bauarbeiten ausgerichtete Lager Saran und 1948 das auf Wohnungsbau spezialisierte Karaganda-Schilstroj. Nach 1951 erfolgte die Eingliederung von vier ehemaligen Sonderlagern mit verschärfter Haftordnung. Zum Sonderlager Nr. 4 gehörten beispielsweise mehrere Steinbrüche, eine Kupfererzgrube und ein Baulager. Durch die Umstrukturierung entstand ein riesiges Lagerterritorium; die Haftorte lagen teils bis zu 340 km von der Karlag-Verwaltung in Dolinka entfernt.
Haftbedingungen
Die Karlag-Administration stellte in den Jahren 1947/48 neben der Planerfüllung überraschenderweise die „Verbesserung der Lebensbedingungen“ der Häftlinge in den Mittelpunkt des „sozialistischen Wettbewerbs“. Die Realisierung der Planungen blieb wie schon so oft, wo sie war, auf dem Papier. In Wirklichkeit besserten sich die Lebensbedingungen der Häftlinge gegenüber den Kriegsjahren nur schleppend. Durch die noch steigende Belegungszahl – ohne den Bestand an Unterkünften, Waschgelegenheiten, Latrinen, Trockenräumen sowie der notwendigen Verbrauchsgüter angemessen zu erhöhen – spitzte sich die Situation zeitweise dramatisch zu. Anfang der 1950er-Jahre verfügte ein Häftling in der Unterkunft durchschnittlich über 1,8 qm Fläche; es gab aber auch Haftorte, wo es nur 1,2 qm waren.
Diesen Angaben zufolge war die Administration nicht in der Lage oder nicht willens, allen Häftlingen einen individuellen Schlafplatz zu sichern. Offiziell gab man an, dass 10 Prozent der Gefangenen über keinen eigenen Ruheplatz verfügten. Bei 60 Prozent der Baracken handelte es sich um Standardbauten aus den 1930er und 1940er Jahren, bei 40 Prozent jedoch um ehemalige kasachische Winterquartiere aus den Jahren 1925 und 1930. Sie hätten längst abgerissen werden müssen. Die aus Lehmziegeln errichteten Unterkünfte waren feucht, die Wände einiger Baracken stürzten ein, weil die Lehmziegel nicht auf einem Steinfundament, sondern auf der bloßen Erde verlegt worden waren. Die Dächer waren undicht, Abflussgräben waren nicht vorhanden.
Bei Kleidung und Ausrüstung erfüllte die Karlag-Führung auch fünf Jahre nach Kriegsende nicht die vorgeschriebene Norm. Jedem fünften Häftling fehlten beispielsweise eine Wattejacke, Filzstiefel, Hosen, eine warme Mütze oder Handschuhe. Bei Frauen mangelte es vor allem an Kleidern und Unterwäsche. Entsprechend schlecht war der gesundheitliche Zustand der Gefangenen. Die Administration musste eingestehen, dass Anfang der 1950er-Jahre nur noch etwas mehr als 20 Prozent voll leistungsfähig waren und schwere körperliche Arbeit leisten konnten. Annährend 65 Prozent hielt man für weniger schwere Arbeit geeignet; knapp 15 Prozent galten als Invaliden, die nur sehr bedingt arbeitsfähig waren.
Unter den geschilderten Bedingungen war es naheliegend, auf der Grundlage des Befehls vom 26. August 1950 „Über die Entlassung von verurteilten Frauen aufgrund Schwangerschaft und Frauen mit Kleinkindern“ in den Folgemonaten mehr als 4 000 Frauen freizulassen. Das war kein humanitärer Akt, sondern lief darauf hinaus, das Karlag von „unnützen Essern zu entlasten“. Politische Frauen waren von der Amnestie a priori ausgeschlossen. Sie mussten wie ihre männlichen Leidensgefährten alle Hoffnungen auf eine vorzeitige Entlassung aufgeben.
Nationalitäten
Eine offizielle Statistik der Karlag-Administration vom 1. Januar 1940 erfasste die nationale Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft folgendermaßen: Russen 57 Prozent, Deutsche, Finnen, Rumänen und Nationalitäten aus dem Ausland 11 Prozent, Ukrainer 9 Prozent, Kasachen, Usbeken und andere mittelasiatische Nationalitäten 6 Prozent, Juden 4 Prozent und andere. Mehr als 45 Völkerschaften waren unter den Häftlingen vertreten. Die Region, aus der die meisten Gefangenen stammten, war Kasachstan. Beinahe jeder fünfte Inhaftierte lebte zuvor in unmittelbarer Nachbarschaft des Lagers. Mehr als 85 Prozent aller Gefangenen hatten die Staatsbürgerschaft der UdSSR. Andere Häftlinge waren frühere Staatsbürger Afghanistans, Bulgariens, Chinas, Österreichs, Polens, Rumäniens oder des Iran.
Stalins Tod und Auflösung des Lagers
Drei Wochen nach Stalins Tod erreichte den Kommandanten der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 27. März 1953. Der Beschluss sah vor, eine Million der über zweieinhalb Millionen Häftlinge aus den Besserungsarbeitslagern zu entlassen. Als „Konterrevolutionäre“ verurteilte Gefangene fielen nicht unter diese Amnestie. Als sich jedoch Tausende Angehörige von Verhafteten sowie die Gefangenen selbst an die Justizorgane und Parteiinstanzen wandten, sah man sich genötigt, zu handeln. Die Entlassung Tausender Häftlinge führte zwangsläufig zur größten und über Jahre anhaltenden Umstrukturierung, an dessen Ende die Auflösung des Lagers stehen sollte. Doch dass es soweit kommen würde, ahnten 1953 weder die Gefangenen noch das Lagerpersonal. Die Entscheidung der sowjetischen Führung unter Nikita Chruschtschow, den Gulag als komplexes Lagersystem schrittweise aufzulösen, fiel am 31. Januar 1956.
Im Mai 1953 wurden die ersten Lagerabteilungen des Karlag aufgelöst. Die erste war das ehemalige Akmolinsker Lager für Ehefrauen von „Verrätern der Heimat“, das heißt von Soldaten, die desertiert waren oder mit dem Feind kollaborierten. Auf dem Territorium des landwirtschaftlichen Lagers mit der großen Näherei und Stickerei sollte auf Beschluss des Ministerrates der UdSSR vom 8. Mai 1953 das Akmolinsker Staatsgut entstehen. Parallel zur Auflösung der Lagerabteilungen wurde in Dolinka in aller Eile mit dem Wohnungsbau begonnen, um wenigstens einige Mitarbeiter mit Unterkünften versorgen zu können. Die Neuordnung bzw. Auflösung des Karlag gewann in den Folgemonaten weiter an Dynamik.
Die Auflösung zog sich gleichwohl von 1956 bis 1959 hin. Als offizielles Datum der Schließung des Karlag gilt der 27. Juli 1959. Die Zentrale Verwaltung in Dolinka wurde nach Karaganda verlegt und teils in die neuen Strafvollzugsorgane integriert, die der Verwaltung Haftorte des MWD im Karagandinsker Gebiet unterstanden. Aus den landwirtschaftlich geprägten Lagerstandorten gingen mehr als 50 Staatsgüter der Tier- und Pflanzenproduktion hervor, in denen Ortsansässige und im ganzem Land angeworbenen Arbeitskräfte, aber auch ehemalige Häftlinge und Angehörige des Lagerpersonals, tätig wurden.
Erinnerung
Die Todesorte und die Verstorbenen und Ermordeten blieben ohne jede Kennzeichnung und gerieten mit den Jahren in Vergessenheit. Nur in Spassk und im Frauenlager bei Akmolinsk sind die letzten Ruhestätten der Verstorbenen angemessen gestaltet; allerdings wurde damit erst nach 1990 begonnen.
Am 14. April 1993 verabschiedete das kasachische Parlament das Gesetz „Über die Rehabilitierung der Opfer der Massenrepressalien“, auf dessen Grundlage die politische Rehabilitation der Verfolgten, auch postum, stattfindet. In der kasachischen Hauptstadt Astana ließ die Regierung ein monumentales Denkmal für die, wie es offiziell heißt, „Opfer der politischen Repressionen“ errichten. Auch in Karaganda steht ein sehr kleineres Denkmal, das die Opfer der Terrorjahre und an die Inhaftierten des Karlag erinnert. Es steht jedoch nicht im Zentrum, sondern an der Peripherie der Stadt, etwas unbeachtet nahe einer Bushaltestelle – dort wo in den 1930er-Jahren Verhaftete erschossen wurden. Am 31. Mai 2022 wurde der Grundstein für das längst überfällige Museum des Karagandinsker Besserungsarbeitslagers gelegt. Allerdings nicht am ehemaligen Hauptgebäude der Karlag-Verwaltung, was der Erinnerung an die Haftlinge angemessen wäre, sondern lediglich in einem Seitenflügel des ehemaligen Krankenhauses.
Literatur
Wladislaw Hedeler/Meinhard Stark (Hg.), Das Grab in der Steppe. Leben im GULAG: Die Geschichte eines sowjetischen „Besserungsarbeitslagers“ 1930–1959, Paderborn 2008.
Dittmar Dahlmann/Gerhard Hirschfeld (Hg.), Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation. Dimensionen der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945, Essen 1999.