Workutlag (Workuta)
„Besserungsarbeitslager“ Workuta
Die Stadt Workuta, in der sich eines der bekanntesten Lager des sowjetischen Gulag-Systems befand, liegt in der russischen Polarregion. Um an diesen Ort zu gelangen, reist man 40 Stunden im Zug von Moskau aus. Die Stadt ist vor allem außerhalb Russlands als Zentrum verschiedener Arbeitslager für politische Häftlinge bekannt. Diese bestanden zwischen den 1930er- und 1960er-Jahren. Inhaftiert waren gleichzeitig bis zu 73 000 Menschen, die hauptsächlich in der Kohleförderung, im Untertagebau, im Eisenbahnbau und in der metallurgischen Industrie Zwangsarbeit leisten mussten.
Zur Entstehung des Lagers
Unter Aufsicht von Offizieren der Geheimpolizei brachen im Juni 1929 mehrere Expeditionen in entlegene Gebiete im hohen Norden der Sowjetunion auf, um nach Bodenschätzen zu suchen. Einer dieser Erkundungstrupps wurde in die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Komi entsandt, nahe des Flusses Workuta. In der Sprache der hier heimischen Nenzen bedeutet Workuta „reich an Bären“. In einigen Publikationen wird der Begriff auch mit „Diebesversteck“ übersetzt, wobei es sich jedoch um einen Irrtum handelt. Während sowjetische Zeitungen ab 1929 über die erfolgreiche Verwirklichung der Ziele des ersten Fünfjahresplanes berichteten, schufen rund 9 000 Zwangsarbeiter unweit des Flusses Petschora am Polarkreis ein Lager.
Bis zur administrativen Reorganisation im Mai 1938 waren im Lagerkomplex „Uchtinsko-Petschorskij-ITL“ bereits 55 000 Menschen eingesetzt. Ab 1939 wurde das Lager erneut umstrukturiert. Das dabei neu entstandene und bis zu seiner Auflösung im Januar 1960 existierende Lager wurde in Anlehnung an den nahegelegenen Fluss „Workutlag“ genannt. Probebohrungen im Oktober 1931 ergaben, dass unter dem Permafrostboden gewaltige Steinkohlevorkommen lagerten. Die daraufhin geförderte Kohle wurde zunächst auf Halden zwischengelagert, da die vorhandene Schmalspurbahn sich nicht zu deren Abtransport eignete. Aufgrund der im Lager herrschenden unerträglichen Arbeits- und Lebensbedingungen traten die Häftlinge im Oktober 1936 erstmals in einen Hungerstreik, der jedoch erfolgslos blieb.
Entwicklung und Besonderheiten
Mit dem Befehl Nr. 00221 des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD) und der Staatsanwaltschaft der UdSSR vom 22. Juni 1941 wurden die Haftbedingungen im Lager verschärft. Der Bewegungsradius der Häftlinge, die sich bis dato relativ frei bewegen durften, wurde eingeschränkt. Politische Häftlinge wurden von Funktionen innerhalb des Lagers entfernt. Arreststrafen waren an der Tagesordnung. Die Bewachung wurde intensiviert und Lagerleitung sowie operative Einsatzkräfte erhielten uneingeschränkte Befugnisse. Gleichzeitig verschlechterten sich Verpflegung und medizinische Versorgung. Für Schwerstarbeiten wurde ein elfstündiger Arbeitstag eingeführt, die reguläre Arbeitszeit betrug 12 Stunden.
Im März 1943 kamen die ersten deportierten 3 341 Russlanddeutschen, die pauschal der Kollaboration mit Deutschland beschuldigt wurden, in das Lager. Am 22. April 1943 wurde der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Bestrafung der Vaterlandsverräter mit Zwangsarbeit“ verabschiedet. Gemäß dem Dekret wurden in Workuta zusätzlich spezielle Abteilungen für Zwangsarbeit mit verschärften Haftbedingungen organisiert. Dies bedeutete völlige Isolation von anderen Häftlingen und der Außenwelt, den Einsatz der Häftlinge bei Schwerstarbeit im Bergbau sowie verlängerte Arbeitszeiten.
Die Arbeitskleidung der Häftlinge, die zur Zwangsarbeit verurteilt wurden, unterschied sich durch das Tragen von Nummern am Rücken, Hose und Mütze von den anderen Häftlingen. Bei der Arbeit in den Schächten wurden die verschiedenen Häftlingsgruppen gemischt. In den folgenden Kriegsjahren entstanden weitere Zwangsarbeitslager. Sie füllten sich mit immer neuen Häftlingen, darunter viele Menschen aus dem Baltikum, der Westukraine und Weißrussland, Gebiete, die nach dem Hitler-Stalin-Pakt von der Sowjetunion annektiert worden waren. Später kamen kriegsgefangene Deutsche, Ungarn, Rumänen und andere hinzu. Insgesamt wurden Menschen 76 verschiedener Nationen und Ethnien inhaftiert.
Der Volkskommissar für Innere Angelegenheiten, Lawrenti Berija, ordnete in den Kriegsjahren an, die Kohlegewinnung zu verzehnfachen. Die Produktionsausweitung schlug sich in neuen Förderstätten nieder, 1944 nahmen weitere Schächte ihre Arbeit auf.
Belegung nach 1945
In der Nachkriegszeit füllten zunehmend Häftlinge aus den von der Sowjetunion besetzten Ländern das Workutlag. Dabei handelte es sich nicht nur um als Kriegsverbrecher verurteilte deutsche und japanische Kriegsgefangene, sondern auch zahlreiche verurteilte Zivilisten zählten zu den Häftlingen. Nach Angaben des Deutschen Roten Kreuzes sind folgende Transporte von Deutschen nach Workuta nachweisbar: 4 200 Volksdeutsche vom Balkan 1947, 2 500 verurteilte deutsche Kriegsgefangene aus anderen Lagern 1948, 4 500 verurteilte deutsche Kriegsgefangene und 1 000 verurteilte Zivilisten aus der SBZ und DDR 1949.
Verbesserung der Haftbedingungen
Mit dem Befehl Nr. 00273 des Ministeriums für innere Angelegenheiten (MWD) der UdSSR vom 29. April 1950 erhielten die Häftlinge einen regulären Lohn. Die Bezahlung hing davon ab, ob das Arbeitssoll erfüllt wurde. Später gab es die Möglichkeit, in der Lagerkantine je nach Verfügbarkeit Zitronen oder Konfekt einzukaufen. Außerdem wurde eine zusätzliche Kantine im Workutlag eingeführt, in der man gegen Bezahlung essen konnte – ein Stück Fleisch und Backwaren. Die Freizeit begann nun um 16 Uhr, nachdem das Werkzeug gereinigt und abgegeben worden war. Es folgten ein Zählappell, Rückmarsch, um 17 Uhr brigadeweise Abendessen und um 19 Uhr der Verschluss der Baracken. Zwischen Abendessen und Barackenschluss blieb etwas Zeit, sich in der „Kulturbaracke“ eine Zeitung oder ein Buch in russischer Sprache auszuleihen.
Sonderlager Nr. 6 („Retschlag“)
Am 27. August 1948 wurde das Sonderlager Nr. 6 bzw. Retschlag („Flusslager“) des Ministeriums für innere Angelegenheiten (MWD) der UdSSR gegründet, in das aus stalinistischer Sicht besonders gefährliche Verbrecher einzuweisen waren. Im Januar 1954 zählte dieses Lager mit 37 654 Personen die höchste Zahl von Inhaftierten. Fast alle Häftlinge waren wegen „Konterrevolutionärer Straftaten“ verurteilt worden, darunter 7 892 Personen (22,3 Prozent) wegen „Vaterlandsverrat und Beihilfe für deutsche Okkupanten“. Unter den im Lager vertretenen Nationalitäten befanden sich vor allem Ukrainer, Russen, Balten, Weißrussen und Polen. 441 Deutsche stellten nur eine Minderheit dar. Die Häftlinge des Lagers wurden in verschiedenen Bereichen eingesetzt. Zu den wichtigsten Aufgaben zählten: Kohlegewinnung in den zahlreichen Schächten, Arbeit in der Straßenbauverwaltung Nr. 4 (Station Nord), Bau des Heizkraftwerkes Nr. 2 des MWD sowie Kohletransport zum Kombinat „Workutaugol“. Am 26. Mai 1954 wurde das Lager geschlossen, indem die Verwaltungen von Retschlag und Workutlag zusammengeführt wurden.
Stalins Tod und der Aufstand von Workuta
Im Sommer 1953 erhoben sich Gefangene zu einem Aufstand, der oft auch als Streik bezeichnet wird. Viele Häftlinge hatten nach Stalins Tod auf eine Verbesserung der Haftbedingungen gehofft. Tatsächlich kam es auch zu einigen Lockerungen, nachdem die Nachricht über das Ableben Stalins zunächst zu Irritationen der Lagerverwaltung vor Ort geführt hatte. Auslöser des Streiks waren nach heutigem Kenntnisstand enttäuschte Deportierte aus dem Lager Karaganda in Kasachstan. Diese hatten sich freiwillig für die Arbeit in der Komi ASSR gemeldet, da ihnen hierfür bessere Haftbedingungen sowie das Recht auf freie Ansiedlung nach der Verbüßung der Strafe versprochen worden waren. Nachdem die in Aussicht gestellten Privilegien nicht gewährt wurden, legten sie die Arbeit nieder. Der Aufstand dauerte insgesamt zehn Tage und wurde am 1. August 1953 mit Waffengewalt beendet. Dabei starben insgesamt 53 Menschen, darunter zwei Deutsche, 123 Häftlinge wurden verletzt. In der Lagerabteilung Nr. 10 wurden schließlich 11 Häftlinge verhaftet und 246 weitere in andere Gefängnisse überführt.
Erinnerung an den Gulag in Workuta
1988 errichtete die Menschenrechtsorganisation „Memorial International“ einen Gedenkstein für die Opfer politischer Repressionen in Workuta. In den 1990er-Jahren fanden hier zahlreiche Treffen und Begegnungen ehemaliger Häftlinge der Lager um Workuta statt. 1995 wurde eine Gedenkplatte mit Kreuz angebracht. Bis heute sind einige wenige Überreste der Schächte Nr. 29 und 40 sowie einzelne Gräber auf dem Lagerfriedhof Nr. 10 erhalten. Am 1. August wurde in den vergangenen Jahren von „Memorial International“ und der Gesellschaft der Russlanddeutschen „Wiedergeburt“ regelmäßig eine Gedenkveranstaltung für die Opfer durchgeführt.
Literatur
- Roland Bude/Falco Werkentin (Hg.), Workuta. Strafe für politische Opposition in der SBZ/ DDR, Berlin 2010 (Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Band 30).
- Jan Foitzik/Horst Hennig (Hg.), Begegnungen in Workuta. Erinnerungen, Zeugnisse, Dokumente, Leipzig 2003.
- Wladislaw Hedeler/Horst Hennig (Hg.), Schwarze Pyramiden, rote Sklaven. Der Streik in Workuta im Sommer 1953. Eine dokumentierte Chronik, Leipzig 2007.
- Gerald Wiemers/Lagergemeinschaft Workuta/GULag (Hg.), Der Aufstand. Zur Chronik des Generalstreiks 1953 in Workuta, Lager 10, Schacht 29, Leipzig 2013.